Alles auf Anfang. Ist das Chaos vielleicht eine Chance? I

Am Anfang bei jeder Krise steht doch die Frage nach dem Warum.

Warum ich, warum wir, warum unser Kind?

Diverse Geschichten über Eltern, die von Engeln erwählt wurden, und Vergleiche mit einem falschen Ziel einer Reise (nach Holland statt Italien), die der Erklärung dienen sollten, weshalb man in diese unabänderliche Lage geraten ist, haben mich eher aufgeregt als mir Seelenruhe verschafft. Nein, ich glaube niemand wünscht sich, dass sein Kind behindert oder chronisch krank ist. Wer will sein Kind dauerhaft wickeln und waschen anstatt ihm zu seinem Seepferdchen Abzeichen zu gratulieren? Abdrücke für Stehorthesen gipsen zu lassen, anstatt gemeinsam ein Dreirad zu kaufen?  Nein – für mich ist es keine Auszeichnung, ich sehe mich weder als besondere Mutter eines besonderen Kindes, noch irgendwie besonders gesegnet. Aber ich finde dieses neue Leben ist auch nicht das Gegenteil, keine Strafe oder andauernde Belastung.

Der Name unseres Sohnes hängt mit dem hebräischen Wort für Geschenk zusammen. Und das fühlen wir auch immer wieder. Er ist unser großer Schatz, im oft düsten Paralleluniversum ein kleiner Leuchtestern. Denn auch, wenn die Situation nicht erstrebenswert und erbauend ist, der Alltag aus zig Medikamenten, medizinischen Fachbegriffen, Versicherungsstreitigkeiten , sich widersprechenden ÄrtzInnen und TherapeutInnen besteht – das Leben mit unserem Sohn ist schon schön. Wir führen auf jeden Fall kein Schattendasein!

Wenn er friedlich schläft, schmelze ich dahin. Zur Zeit versucht er sich aufzurichten und wir fiebern mit. Wir können zwar in seinem Babybuch zum ersten Lebensjahr keine ersten Schritte, erste Zähne, erste Worte  eintragen – aber glorreiche andere Glücksmomente: Als unser Zwerg mit acht Monaten endlich lächelt, unsere Freude als der kleine Spatz immer häufiger vom Löffel isst und nur noch selten eine Magensonde benötigt. Jetzt gerade, als nach gut einem halben Jahr, endlich wieder eine Kleidergröße mehr braucht – über all das freuen wir uns. Wir sind auch enger zusammen gerückt und sind zusammen gewachsen, als Paar und als Familie.

Anderes verunsichert mich nach wie vor. Nicht nur, wenn ich an die ungewisse Zukunft unseres Lieblings denke, all seine gesundheitlichen Baustellen. Denn was ist mit mir, wo bleibe ich, oder besser gesagt, wo geht es hin?  War all meine Studienzeit jetzt umsonst, Abschlüsse für die Tonne oder als Tapete im Wartezimmer…

Am Anfang, zu der Zeit als wir schon einige Monate zu Hause mit unserem Räubersohn waren, hatte ich das Gefühl, ich könnte niemals wieder die alte, die fröhliche lebenslustige Sophie werden. Aber das stimmt so nicht. In der Tat die Alte bin ich nicht, auch mein Mann und die Großeltern haben unsere schrecklichen Erlebnisse, die Geburt, die Intensivstation, Phasen des Bangens der unbändigen Furcht nicht unberührt gelassen. Heute bin ich vorsichtiger geworden, als ich es je gedachte hätte sein zu können. Dick- und dünnhäutiger, mutig und ängstlich gleichzeitig. Traurig aber auch dankbar. Müde aber dennoch unter Strom. Ich fühle mich sehr gefordert und doch nicht ganz glücklich in meinen vier Wänden.

Mit der Zeit wird mir immer bewusster, dass so eine tiefschürfende Veränderung, solch ein Cut im dahin Dümpeln des Lebens, einen regelrecht dazu zwingt alles umzukrempeln. Das kann auch eine wirkliche Chance sein, um inne zu halten und sich zu fragen: Was will ich? Und das Ruder nach dem letzten Sturm wieder fest in die Hand zu nehmen.

Und nun? Nicht über Los, zurück auf Start?