Stillstand -leben in der Blase

Was mich schon immer an kleinen Kindern fasziniert hat, ist wie sie alles aufsaugen, einen nachahmen und sich rasend verändern, wachsen, neue Dinge lernen. Hat man so einen Winzling nur ein paar Wochen nicht gesehen, scheint es schon wieder ein ganz anderes Kind zu sein. Der klassische Oma-Ausspruch „Oh ist der aber groß geworden“ rutscht einem über die Lippen und die Eltern sind stolz wie Bolle. In meinem Pädagogikstudium fand ich besonders Kurse zu Entwicklungspsychologie wie Piaget oder in Ethik das Modell von Kohlberg zur Moralentwicklung unglaublich spannend. In der Schwangerschaft habe ich Woche für Woche mit verfolgt wie unser Junior wächst und sich entwickelt: Jetzt hat er schon Fingernägel, nun ist das Gehör ausgebildet…Dann als er geboren war und Wochen lang ums Überleben kämpfen musste war uns allen klar, dass er nach allem was er durch gestanden hat und  womit er noch immer zu kämpfen hat – von Übelkeit wegen der kaputten Nieren bis Spastiken, Rumpfhyptonie und kleine Anfällen – fortan schier wahnsinnig viel Zeit für jeden noch so kleinen Schritt braucht. Ich übte mich in Geduld.

Wir freuen uns über jede noch so kleine Entwicklung. Immer wieder überrascht er uns, er greift inzwischen nach Holzperlenketten und unser größtes Glück war es bisher, dass er die Nasensonde los bekommen hat nach 1,5 Jahren. Unser Sohnemann versuchte auch sich zu drehen, zu krabbeln, aber dann hört es meist wieder auf. Zwar sind die Großeltern und andere Verwandte und Bekannte unendlich optimistisch. Mir tut es aber weh. Dieses „Das wird schon noch, er braucht nur Zeit.“ Ich kann es bei vielen Dingen nicht mehr glauben und will aufhören mir unrealistische Hoffnungen zu machen. Es ist auch traurig, dass einige einfach nicht wahrhaben wollen, dass er eben behindert ist und, dass das eben nicht weg geht mit Warten oder tausend  noch so tollen Therapien.

Was mich noch mehr bedrückt ist, dass er quasi nicht wächst. Wenn wir mit ihm unterwegs sind, z.B. auf Festen, werden wir gefühlte 200x gefragt „Wie alt ist denn das Baby ?“. (Eine der Smalltalk Fragen, die wie die Rückfrage an kinderlose Paare Mitte 30, „Ob sie nicht mal loslegen wollen, die Uhr tickt“ einfach voll daneben gehen und sehr verletzen kann) Für Verwunderung sorgt, dass das „Baby“ so viele Haare hat. Nur, dass er mit seinen fast zwei kein Baby mehr ist. Dass sehen die Leute eben nicht, da er kaum größer ist als ein 8 Monate altes Kind ist und noch weniger kann. (Nur ein paar Fachleute, Physios und Heilpraktiker erkennen gleich seine ICP an den Spitzfüßen und der Kopfhaltung.) 

Trotz wiederholtem Zahnen und Sabbern, Schreien und was dazu gehört, hat es bisher auch kein Zahn raus geschafft. Woran es genau liegt, dass er so mini ist, weiß niemand. Es könnte sowohl von der Nieren-als auch der Hirnschädigung kommen. Ein paar unserer Ärzte denken sogar, da er dermaßen die Perzentilenkurven gesprengt hat, dass unser kleiner Moppel unterversorgt sei und hören nicht auf uns wegen einer Magensonde (PEG) zu stressen und unter Druck zu setzen. Obwohl das Essen inzwischen toll klappt ,er gern isst (eines der wenigen Dinge die er kann und mag!) und richtige Speckröllchen und ein Doppelkinn hat. Sie meinen ,wir sollen uns freuen, dass er so klein ist, da wäre die Pflege ja leichter

Klar, geht es mehr in die Knochen einen Jugendlichen mit 1,70m zu waschen und zu tragen. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter, wenn ich an die Zukunft denke. Einen jungen Mann noch immer komplett zu versorgen, anzuziehen, Essen geben . Wenn er doch nur etwas selbstständiger werden könnte. Aber selbst für die meisten Hilfsmittel ist er zu klein und zu leicht. Alles muss maßangefertigt werden.Wir bekommen Kleider geschenkt von Freunden deren Kinder über ein Jahr jünger sind als er, was sehr nett und praktisch ist. Aber auch so frustig. Auf Rückfragen von Tanten und Freundinnen welche Kleidergröße er jetzt trägt, kann ich eigentlich immer nur sagen, dieselbe wie vor einem halben Jahr. Sogar manche Hosen von letztem Sommer passen noch.

Seine kleinen Freundinnen und Freunde sagen Baby zu ihm. Decken den Spatz zu wie eine Puppe oder schieben ihn im Lauflernwagen umher. Zuckersüß, aber mir bricht es auch das Herz. „Sie werden so schnell groß“ trifft auf unseren Liebling leider nicht zu. Er scheint seine eigene Zeitrechnung zu haben. Es erinnert mich manchmal an den Film >>Benjamin Button<< wo auch der Lebens- und Zeitverlauf dermaßen auf dem Kopf stehen. Ich komm mir immer wieder wie in einer Blase vor.

Alles verändert sich, nur hier herrscht Stillstand.

(Das Zitat von Julia Engelmann spiegelt wie ich mich immer wieder fühle)

 

Mein Alltag ist der einer Mutter mit krankem Baby. Füttern , Medikamente geben, Trinken einflößen, Krankengymnastik, Essen geben… Ich kann ihm vorsingen, Geschichten erzählen, es kommen nur minimale Reaktionen. Er lautiert kaum, teilt nur manchmal mit meckern mit, was ihn stört.

Natürlich gibt es sie die schönen Momente: Wenn unser Liebling gut drauf ist, sieht er sich neugierig um und wenn wir ihn schaukeln lacht er zauberhaft. Sonst schaut unser Sohnemann einfach gerne dem Spiel von Licht und Schatten oder den Blättern im Wind zu. Er scheint zufrieden zu sein.

Und ich habe Sorge auf ewig ein Baby zu haben und zu versorgen. Bald darf er in die Kita aber die grundlegende Situation bleibt die gleiche.

Aber aus der Blase raus gibt es keinen Weg.

(Bildquelle: https://www.facebook.com/juliaengelmannofficial/photos/a.580008315425033.1073741829.579943082098223/1079070738852119/?type=3&theater )