Wider Willen im Strudel

Mein Kopf dröhnt. Zuviele Fragen hämmern darin. Alte Bekannte, die sich nicht verziehen wollen. Auf die meisten habe ich keine oder zumindest keine klare Antwort. An vielen Tagen fühle ich mich wie ein Stück Treibholz, dabei würde ich so gern ein Segelboot sein, selbst bestimmen wohin die Richtung geht.

Ich verstehe auch nicht warum mich immer wieder ähnliche Dinge so wütend und traurig machen. Was läuft schief? Uns – oder besser gesagt mir – fehlen zuverlässige Weggefährten, die dem Räubersohn und uns als Eltern zur Seite stehen.

Gerade jetzt endet wieder die Genehmigung für die Intensivpflege und wie vor einem Jahr stehen noch benötigte Unterlagen aus. Statt uns zu helfen Hürden zu nehmen, sind das SPZ und mehrere Ärzte, selbst Teil des Problems. Wir kommen gegenüber der Krankenkasse erneut in Erklärungsnot, obwohl wir die Relevanz von aktuellen und korrekten Verlaufsberichten mehrfach nachdrücklich erklärt haben. Wie kann es nur sein, dass wir bereits nach einem Jahr fast in der gleichen misslichen Lage sind. Und nun? Wieder wechseln? Ich mag nicht mehr.

So vieles ändert sich. Wir bräuchten Konstanten! Therapeuten hören auf, neue müssen gefunden und eingelernt werden. Auch in unserm Pflegeteam ein Kommen und Gehen.

Nur was gleich bleibt, sind die Fragen: Warum lässt sich unser Räubersohn wieder kaum absetzen und macht so Alltägliches, wie Essen geben, Autofahrten und Ausflüge, so schwer, mit seinem Schreien wird es zur Nervzerreißprobe.

Außerdem beschäftigt mich die Frage wie kann es uns gelingen könnte mit unserem nun 4,5 jährigen nonverbalen Goldstück endlich mehr zu kommunizieren? Mit der UK kommen wir seit Jahren nicht weiter. Wir bräuchten Fachleute, die mit schwer behinderten Kindern Erfahrung haben, die mit uns zusammen nach fruchtbaren Ansätzen suchen. Als wir im Frühjahr stationär waren, hatten wir die Gelegenheit privat einen Talker ausprobiert. Und es schien, als würde dieser besser als früher geliehene Methoden funktionieren. Nun beim zweiten Anlauf, als wir jetzt einen Testtermin für das unglaublich teure Gerät bekommen haben, klappte es nur ansatzweise. Das ist aber auch nicht aussagekräftig, so ein kurzer Versuch. Eine längere Ausleihphase über mehrere Wochen ist wieder mit Bürokratie verbunden. Und uns fehlt jemand, der uns kontinuierlich dabei begleitet.

Irgendwie traut unserem Liebling kaum einer zu, dass er versteht was um ihn herum geschieht und er sich mitteilen möchte. Ich kann doch nicht alles für ihn sein: Mutter, Pflegerin, Therapeutin und Anwältin! Ich bin so oft erschöpft, die Pausen dazwischen in denen ich mehr bewältige werden kürzer .

Und wir haben doch versucht uns Unterstützung zu holen, für alle Bereiche. Ich mache mich stark für die Rechte von uns pflegenden Eltern. Wir wollen keine Einzelkämpfer sein. Doch immer aufs Neue stehen wir irgendwie doch gefühlt alleine da.

Um gemeinsam Schwierigkeiten zu bewältigen braucht es ein Team. Trotz Rückhalt von unseren Lieben, müssen wir vieles ohne konkrete Hilfe bewältigen.

Auf der Rehab Messe war ich auch beim zweiten Besuch wieder überfahren von all den Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen. Und gleichzeitig der Erkenntnis, dass so vieles für unseren Sohn nicht geeignet ist.

Vor allem mich beschäftigen diese Themen sehr. Ich denke zuviel nach, grübele, komme nicht voran, dreh mich im Kreis. Déjà Vues, die nicht hilfreich sind und wieder schlechte Träume in der Nacht. Ich will endlich raus kommen aus diesem Wirbelsturm. So gerne würde ich – außer dieser kaum honorierten Carearbeit und den nicht endenden Aufgaben als (pflegender) Mutter – noch einem bezahlen regelmäßigen Job nachgehen, ein finanzielles Polster wäre wichtig für jetzt und später. Und endlich wieder eine Arbeitsstelle außerhalb der vier Wände würde mich auch auf andere Gedanken und in Kontakt zur Welt draußen bringen. Doch wie soll ich dafür auch noch die Kraft aufbringen? Wie soll das gehen? Auch der Mapa scheint keine Antwort zu kennen.

Gemeinsame Unternehmungen und Besuche von Freunden tun gut. Wenn andere Kinder hier herum wuseln, wir zusammen schöne Orte und leckeres Essen genießen kann ich zwischendurch loslassen. Auch unsere zwei Schätze werden mehr zu Geschwistern. Wenn die Kleine dem Großen vorliest, während sie zusammen in der Sitzhife am Boden lehnen, und er versucht sie zurück zu küssen, bin ich gerührt und glücklich für diese wertvollen Momente.

Da ist es spürbar, das Gefühl Familie zu sein und ein bisschen von meinem alten lebensfrohen Ich wieder zu wahrzunehmen. Doch dann kommt der nächste Brief oder Anruf, der mich aus der Balance bringt. Ich will nicht ständig argumentieren, vermitteln und kämpfen. So müde bin ich und überdrüssig, das kann so nicht weiter gehen.

Die kleine Piratenprinzessin gibt sich weiterhin große Mühe ihrem Namen alle Ehre zu machen. Sie könnte auch Pippi heißen oder Michel. Dieses kleine Energiebündel tut nicht nur uns, sondern auch ihrem Bruder so gut. Und sie fordert mich heraus, strapaziert meine ohnehin dünnen Nerven. Und ich erkenne mich wieder. So war ich doch auch mal. So voller Tatendrang, eine furchtlose Welteroberin. Ich hoffe, ihr geht das nie verloren. Sie trägt viele der Kleider des kleinen Königs und wird, mit ihrem Temperament, oft für einen kleinen wilden Jungen gehalten, wenn sie wieder tollkühn über den Spielplatz tobt. „So könnest du auch sein, mein Räubersohn.“ Denke ich dann oft wehmütig. Und vermisse den Sohn, der vor fünf Jahren in meinem Bauch wilde Purzelbäume geschlagen hat. Deshalb liebe ich ihn nicht weniger. Es schmerzt nur gelegentlich und leider ziemlich heftig.

Nur es ist, wie es ist. Er wird nie herum räubern. Nur durch Meckern, Lächeln und Weinen sein Empfinden kund tun. Warum quält es mich auch heute noch? Noch immer bin ich im Strudel all dieser Gefühle und Gedanken. Ich beobachte mich selbst dabei und verstehe es nicht. Starre auf’s aufgewühlte Meer und suche den Rettungsring, der mich hier raus zieht.

Silben fischen – Talk to me Baby! Unsere bisherige Logo-Reise gegen die Sprachlosigkeit.

Kennt ihr das Lied von Lille Olle Bolle von Hans Spielmann? Die ganze Trollfamilie redet auf den Junior ein mit „oh, ah, häh“ – Doch es ist vergeblich, denn jeder Silbe folgt: „Aber Lille Olle Bole sagte gar kein Wort“. So geht es Strophe für Strophe , die Spannung wird aufgebaut aber nicht aufgelöst; bis zum Schluss des dänischen Kinderfolksongs bleibt es dabei: Der kleine Lille schweigt, schweigt und schweigt.

Mir kommt das sehr bekannt vor. Auch der kleiner König könnte ein guter Mönch werden. Kein „Mama“, „Aua“ oder „Wauwau“ kam je über seine Lippen. Wenn ihm etwas gefällt, strahlt er uns an oder gibt Arr-Laute von sich. Passt dem jungen Herrn etwas nicht, macht er „eehhh“,  streckt sich durch, verdreht die Augen oder erbricht sich gelegentlich. Das hilft uns zwar in manchen Situation zu verstehen was er NICHT möchte, aber es gäbe natürlich bessere Möglichkeiten, das deutlich zu machen.

Logopädische Förderung bekommt der kleine König eigentlich von Geburt an. Bereits in der Kinderklinik, in der  wir die drei Monate verbrachten, schaute außer den Ärzten und Physios auch eine Logopädin vorbei.

In seinen ersten eineinhalb Lebensjahren entwickelt sich der Räubersohn, wohl – neben der Infantile Cerebralparese (ICP) – wegen der allgemein schwierigen gesundheitlichen Lage und den schlecht arbeitenden Nieren mit Heimdialyse und häufigem Erbrechen, körperlich kaum.  (Er hatte auch fast ein ganzes Jahr die Kleidergröße 62-68. ) Zu dieser Zeit hatte unser Liebling eine Nasogastralsonde über die er mit angereicherter Milch ernährt wurde. Dieses kleine Plastikschläuchchen sicherte zwar seine Versorgung, aber es war auch beim Schlucken und Saugen hinderlich. Das Essen und Trinken ist sowieso durch seine Schluck-und Essstörung, beeinträchtigt. Diese verursacht weitere Probleme wie häufiges Verschlucken und eben auch das Übergeben, wir haben damals immer eine ganze Tasche Wechselkleider dabei gehabt, wenn wir außer Haus gingen – für ihn und uns.  (Heute reicht für ihn und das prophylaktische „Spucktuch“, die obligatorische Mullwindel.) Deshalb stand für uns im ersten Logojahr zunächst erst einmal ganz klar die Verbesserung der Ernährungssituation im Vordergrund.

In Rückblick auf die letzten drei Jahre ist unsere bisherige Logopädiegeschichte wirklich ziemlich irre. Die Physiotherapeutin, die uns zunächst zu Hause betreute und eigentlich auch Logopädin war, sollte laut Rezept mit ihm auch beides – Physio und Logo –  durchführen. Doch die werte Dame, ihrerseits überzeugte Vojtaianerin turnte mit ihm, der mit circa vier Monaten sowie so schon dauerüberstreckt und am Brüllen war, ausschließlich die heftigen, zu heftigen Übungen für ein Intensivkind. Und das obwohl wir eigentlich Bobath verordnet hatten. Nach einem Rezept bat ich sie nicht wieder zu kommen.

Die zweite Logopädin ist auf Castillo Morales spezialisiert und hat viel Erfahrung.  Leider liegt ihre Praxis nicht gerade um die Ecke und die Fahrten mit dem damals noch Dauer brüllenden Baby sind eine nervliche Zerreissprobe für alle Beteiligten. Irgendwann kommt sie schließlich zu uns heim.  Sie schafft es ihn gut voran zu bringen mit der Mundmotorik. Als sie das erste mal über UK (Unterstütze Kommunikation) spricht bin ich entsetzt. Er wird doch sprechen lernen! So schlimm behindert kommt mir mein kleiner Sohn bis dato nicht vor.

Schon komisch. Damals war es für mich eine Horrorvorstellung – heute mein Licht am Horizont!  Wir üben auch Essen mit ihm, immer wieder mit Hilfe von Kausäckchen aus Mull. Die Sondenentwöhnung kann sie nicht leisten, sagt sie. Und auf einen Termin in der spezialisierten Kinderklinik warten wir fast ein Jahr.  Schließlich trauen wir uns zusammen mit den Pflegerinnen in Winterferien 2016 die Sonde weg zu lassen, als er immer mehr Milch aus der Spritze (wie mit einer Pipette) über den Mund nimmt und etwas Brei isst. Leider sagt uns diese Logo erst hinterher, dass die Entwöhnung wohl schon früher möglich gewesen wäre, sie uns aus versicherungsrechtlichen Gründen dazu aber nichts gesagt hat. Wie schade und ärgerlich. Denn er hatte die olle Sonde schon länger satt, er zog sie sich immer wieder trotz Pflaster und sonst kaum vorhandener Feinmotorik.

Der Aufenthalt in der Kinderklinik drei Monate später war insgesamt ziemlich frustrierend und brachte uns eher Rück- als Fortschritt was das Essen angeht – von Sprachförderung auch hier kaum die Rede. (Sie wollten dem nierenkranken Zwerg tatsächlich Standard Kantinenessen und super salziges püriertes Leberwurstbrot geben.) Mit Schuld war wohl die Ferienzeit, der wir vier verschiedene Logos dort zu verdanken hatten, in dem Monat Aufenthalt. Fast alle waren ängstlich wegen der Epilepsie und dem Erbrechen. (Eine gute Idee war ein Kautschuk Kauschlauch, der uns bei seinem Zahnen gute Dienste erwies.) Als er einen Infekt hatte, zwangen die Ärztinnen uns schneller als uns lieb war die Sonde wieder einzuführen. Es war niederschmetternd.

Das viele Spucken wurde erst durch das Andicken (wir verwenden dazu das geschmacksneutrale TickenUp clear aus modifizierter Maisstärke) und wieder ohne Sonde besser. Heute wissen wir, durch eigne Recherche, dass bei ihm durch die hypoxische Schädigung eine Form der Dysphagie vorliegt, ähnlich den Menschen, die einen Schlaganfall hatten.

Natürlich singe ich als Chorfan seit er ein Baby ist viele Kinderlieder vor. Und wir alle auch die Großeltern lesen ihm immer wieder Bilderbücher vor -(möglichst kontrastreiche – wie „Kleiner weißer Fisch“) und machen Fingerspiele und Kniereiter mit dem kleinen König. Wir sind ja eine Pädagogenfamilie und haben Spaß an solchen Kindereien! Doch bis auf wenige Silben wollte sich bisher einfach keine Sprache einstellen.

Das „Wir sind Helden“ Lied geht mir dazu nicht mehr aus dem Kopf :

„Ich sehe, dass du denkst
Ich denke dass du fühlst
Ich fühle dass du willst
Aber ich hör dich nicht ich
Hab mir ein Wörterbuch geliehen
Dir A bis Z ins Ohr geschrieen
Ich stapel tausend wirre Worte auf
Die dich am Ärmel ziehen
Und wo du hingehen willst
Ich häng an deinen Beinen
Wenn du schon auf den Mund fallen musst
Warum dann nicht auf meinen
Oh bitte gib mir nur ein Wort.“

Wir versuchen geduldig zu sein, „Er braucht nur mehr Zeit“ wiederholen die Verwandten Mantra ähnlich. Was soll es, dann halt weiter Tee trinken und abwarten. Schließlich ist das Sprechen nur eine von vielen Baustellen. Krabbeln oder überhaupt Sitzen oder gezieltes Greifen ist ja auch wichtig. Dass fast nichts davon kam drei Jahre lang, so schwarz hätte ich auch in Depriphasen nie gedacht. Doch man gewöhnt sich irgendwie daran, alles verliert mit der Zeit seinen Schrecken.

Und doch bleibt etwas Hoffnung. So begannen wir vor über einem Jahr mit UK. Ganz langsam mit ein bis zwei Taster drücken mit Symbolen für STOPP und NOCHMAL. Und dann übte er den Powerlink über einen großen Funkkopf zu bedienen, um verschiedene adaptierte Spielzeuge und Geräte ein und aus zu schalten, was ihm je nach Tagesform gelingt. Doch die Versteifungen in den Armen sind hinderlich. Wie soll der Räubersohn in seiner „Häschenposition“ einen Hebel bedienen? Wie soll sp je Kommunikation angebahnt werden?

Ich meldete uns für die regionale Medienberatungsstelle an im Frühjahr 2017. Wir bekamen auch einen Termin: Mitte Dezember! So lange Däumchen drehen?

Und das, wo er immer mehr nachts weinte und heftig schrie? Das es von den zunehmenden Spastiken kommt, fanden wir  – Monate später – heraus. Könnte er uns doch nur sagen waß los ist! Müde, Kuscheln, Bauchweh? Es ist quälend das eigene Kleinkind so brüllen zu sehen und es macht einen als Eltern echt fix und fertig.

So ein non verbales Kind zu haben ist in vielen Bereichen eine enorme Belastung. Allein die Fragebögen der U- Untersuchungen, das Rätsel raten was er essen möchte…und und und.

Dazu kamen Probleme mit der Kostenerstattung. Wir kämpften die ausgezeichnete Sprachförderung HET (Heidelbergerelterntraining) bis zum Amtsarztentscheid durch. Um dann doch festzustellen, dass es zu stark visuell ausgerichtet ist (auf Bilderbücher und Gebärden) für ein sehbehindertes Kind. Obwohl er an den Tiergeräuschen viel Spaß hatte, sah es auch diese engagierte Logopädin als nicht sinnvoll an es fortzuführen.

Inzwischen waren wir kurz vor Weihnachten noch im Medienberatungszentrum (MBZ). Und wir sollen  – suprise suprise – wieder Taster mit Monsieur drücken üben. Aber mit direktem positiven Feedback,  also Dingen, wie klingeln oder knistern, die er mag. Dazu sollen wir wohl bald (hoffentlich) Sensortaster ausgeliehen bekommen, die seine Bewegungen erfassen.

Auch ein I-Pad wurde angesprochen, denn der kleine König konnte beim Test vor Ort tatsächlich, trotz Seheinschränkung, den Bildschirm mit den Augen ansteuern. Inwieweit das willentlich ist, werden wir dann heraus finden. Es bleibt etwas Hoffnung und die können wir brauchen, denn bis dieses Gerät mit Eyetracking Software verfügbar ist, wird es wohl Ostern.

Ich versuche mich mit schlauen Sprüchen zu trösten von Grashalmen, die durch Ziehen nicht schneller wachsen. Aber Gießen sollte man sie schon – und den Mutterboden auch. Damit keiner vertrocknet, wie der Skelettierte aus der neunziger Jahre Eastpack Werbung, so will ich nicht enden!

Hier noch ein nützlicher Link, wenn ihr eine UK Beratungsstelle in eurer Nähe sucht: http://www.gesellschaft-uk.de/index.php/service/beratungsstellen-fuer-unterstuetzte-kommunikation