Kleiner, großer Bruder – ein Brief für meinen Räubersohn

Für dich, mein Räubersohn:

Kaum zu fassen, wie schnell diese Schwangerschaft an uns vorbei gerauscht ist. Die Zeit, seit dem du bei uns bist, kommt mir kaum länger vor. Und doch bist Du schon seit zwei Jahren und sieben Monaten, unser „Baby“ unser kleiner König, die Nummer eins. Bald werden wir Nachwuchs bekommen und alle zusammen in „dein“ barrierefreies Häuschen umziehen, wie wir immer sagen. Das zweite Kinderzimmer wird dann tatsächlich von Anfang an eine kleine Bewohnerin haben. Was für ein Segen, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht! Nicht, dass uns mit einem Kind langweilig wäre. Nein, du, bzw. deine gesundheitliche Situation, halten uns auf stets Trab: Zuerst das Bangen, ob du bei uns bleiben wirst und die Sorge, wie wir mit all deinen Krankheiten, den Medikamenten, Klinikaufenthalte, den unsicheren Zeiten zu Streich kommen werden. Seitdem fragen wir uns wie ausgeprägt deine Handicaps sein werden und wie wir dir mit dem richtigen Maß an Therapien helfen können. Trotz dem vollen Kalender sollst du Kind sein dürfen – nicht Therapieobjekt, wir Mama und Papa kein Pflege- oder Medizinpersonal. All die Förderanforderungen, die „Hausaufgaben“ aus Physio, Logo, Ergo sowie die Beschaffung deiner nötigen Hilfsmittel etc. liegen manchmal wie dicke Felsbrocken auf uns. Doch wir schaffen es immer wieder uns frei zu schaufeln und einfach Familie zu sein, mit Freunden zu kochen, spazieren zu gehen,  einen kleinen Ausflug zu machen, einfach zu faulenzen oder zusammen zu kuscheln.

Nach wie vor dauert es viele Stunden des Tages dich zu versorgen, dir Essen und Trinken in kleinen Mengen einzuflößen, mit dir auf dem Galileo zu „turnen“, dich zu wickeln an manchen Tagen auch mal mehrfach umzuziehen oder zu waschen, wenn du gespuckt hast. Du schläfst spät ein, wachst heulend auf, oft mehrmals in der Nacht. In manchen Dingen bist du noch wie ein Säugling und wirst es wohl auf unbestimmte Zeit – vielleicht für immer – bleiben.  Natürlich hast du dich in vielen Bereichen wundervoll entwickelt, besser als wir es gewagt haben zu hoffen. Du bist neugierig auf andere Kinder und oft geduldig bei deinen Übungen. Und versteh‘ mich nicht falsch, natürlich: Das alles ist anstrengend, ja – aber du bist keine Last, nur die Situation ist immer wieder belastend, wenn es sich häuft, viele Dinge zusammen kommen. Aber du bist unser Glück, unser Goldstück und so ein charmanter Strahlemann. Wir genießen im Moment besonders die exklusive Zeit mit dir, uns als Dreiergespann. Wir staunen, was für kleine Dinge dich glücklich machen, zum Beispiel sich im Wind wiegende grüne Zweige, wilde Flugzeug- und Schaukelspiele oder, wenn man dich „annagt“ oder anprustet.

Und jetzt kommt ganz bald noch jemand dazu. Deine kleine Schwester wird in wenigen Wochen wie ein Funken sprühender, leuchtender Komet in unseren Alltag brechen. Wir werden (wieder) aus unserer inzwischen gewohnten Umlaufbahn katapultiert. Und wahrscheinlich ist das auch gut, denn wir sind schon ganz schön eingefahren. Obwohl wir immer versuchen auch ein Paar und selbstständige Einzelpersonen zu bleiben, bist du doch sehr der Mittelpunkt unserer kleinen Familie geworden, um den wir zusehend kreisen. Das ist bestimmt auch in Familien außerhalb der Anderswelt bei ihrem erstgeborenen Kind so. Ich hoffe du weißt und spürst, wie sehr wir dich lieben, ich dich liebe, auch wenn an „deinen Schlafhügeln“, an die du dich so gerne kuschelst bis dir die Augen zu fallen, demnächst ein Neugeborenes nuckeln wird. Die kleine Miss wird auch, zumindest am Anfang, sehr viel Aufmerksamkeit benötigen, die gleiche 24h-Rundumversorgung wie du. Und sie wird sich in einem unglaublich schnellen Tempo entwickeln, wachsen, neue Dinge lernen. Das soll dich nicht frustrieren, sondern anspornen. Vielleicht kannst du dich auch mit ihr freuen, wenn ihr manches leichter fallen wird.

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Sophie und der kleine Sonnenkönig

Du bist und bleibst unser kleiner Räuber – mein Lieblingssohn sage ich als scherzhaft – daran wird sich nichts ändern. Nur bist du demnächst ein großer Bruder! Das wird man dir wohl nur ein paar Monate lang ansehen, denn in einem halben bis dreiviertel Jahr wird die Prinzessin so groß sein wie du. Dann werdet ihr vielleicht für Zwillinge gehalten und wir können euch in einen Geschwisterbuggy stecken. Und nächstes Jahr im Frühling wird sie wahrscheinlich größer sein als du. Das macht aber nichts. So bist du zunächst ein großer Bruder und dann hast du eine große Schwester, die dich schon bald in ihrem Lauflernwägelchen umher schieben kann. Und vielleicht lernt sie auch deine Räubersprache und dolmetscht für uns. Oder du lässt dich von ihr mitreißen und ziehst deine Siebenmeilenstiefel an (so wie der große Nasenbär-Sohn von Lara). Wer weiß, wer weiß…

Mit einer Schwester bist du nie mehr alleine, auch wenn wir älter werden. Das nervt vielleicht ab und zu, aber die Verstärkung gegen die Eltern wird bestimmt zu manchen Anlässen auch von dir sehr erwünscht sein.

Was die Zukunft bringt ist wie immer ungewiss. Auf jeden Fall bleibt alles anders und wir freuen uns auf die Zeit zu viert. Du musst deinen Thron nicht verlassen, nur ein bisschen zu Seite rutschen. Und du wirst sehen, zu zweit macht das Regieren viel mehr Spaß!

Es gibt viel zu verlieren, Du kannst nur gewinnen
Genug ist zuwenig – oder es wird so wie es war
Stillstand ist der Tod, geh voran, bleibt alles anders
Der erste Stein fehlt in der Mauer
Der Durchbruch ist nah

Herbert Grönemeyer „Bleibt alles anders“

Auf dem Heimatplaneten. Ein Tag zusammen auf der Rehab-Messe.

Heute hat es wirklich geklappt und wir drei – fast vier – sind zusammen auf die Rehab-Messe (11.-13.05.2017 Messe Karlsruhe) gefahren. Der Mampa hatte glücklicherweise frei und der Räubersohn war vom KiGa beurlaubt. Deshalb durfte er etwas länger schlafen und hatte gute Stimmung. Auch die Autofahrt war nicht so wild, denn seit er seinen neuen Reha-Autositz hat, mit dem er aus dem Busfenster schauen kann und der lustig vibriert beim Fahren findet es der kleine König  meistens gar nicht mehr so schlimm on Tour zu sein. Und bei jedem Rehab-Hinweisschild hörte ich Amy Winehouse „no no no“ singen. Von unseren Pflegerinnen haben netter Weise Freikarten für die Messe in Karlsruhe bekommen. Dort an gekommen saß unser Junior heraus geputzt mit Bulli-Schlupfhose und fröhlichem Grinsen in seinem Rehabuggy. Mit meinem Kugel-Vorbau war ich schon nach dem Weg vom Parkplatz zum Messeeingang etwas ko.

Mit den ersten Schritten​ auf dem Messegelände betraten wir eine andere Welt: Überall waren Busse und Caddys schon auf dem Parkplatz und auf dem Fußweg dorthin und drinnen erst recht – überall behinderte Menschen, die in Rollis saßen, lagen auf E-Fahrzeugen umher cruisten, sich grüßten. Kleine Kinder, kleinwüchsige Menschen, Senioren, junge Gepircte, Sportler mit Prothesen. Wow wie bunt, was für eine Vielfalt. Cyborgmäßig anmutende Laufhilfen, Hightech Geräte, die man über die Augen steuern kann, Offroad Segways – irre! Alles verteilt auf zwei Hallen und Gänge. Bei allem Neuen und Ungewöhnlichem, das auf uns einströmte, merkte ich es gleich: Ich bin zu Hause gelandet – auf dem Heimatplaneten. Hier waren wir normal, eine Familie unter anderen. Andere junge Eltern grüßten uns, wir sahen ein paar bekannte Gesichter. Wie die nette Chefin und Crew der Familienherberge Lebensweg – eine fabelhafte Initiative​, die Familien mit schwer kranken und behinderten Kindern ab 2018 eine Auszeit in einen wunderschönen Haus auf dem Land ermöglichen wird.

Irgendwie war ich auch gerührt. Es ist soviel möglich heut hier in Deutschland. Für fast jede Behinderung gibt es Hilfsmittel, die einem das Leben oder den Angehörigen die Pflege erleichtern können. Klar, man muss sie oft sehr hart erkämpfen (bei uns gerade Geräte  zur UK) und manches kann man sich als Otto-Normal-BürgerIn leider nicht leisten. Aber wie wäre es, wenn wir irgendwo in einem Entwicklungsland leben würden, einer Krisenregion oder einem Staat ohne Gesundheitssystem wie bei uns. (Unvorstellbar wie sich Eltern eines chronisch kranken, behinderten Kindes in den USA zur Zeit fühlen müssen…) Auch zur Zeit als meine Eltern noch klein waren, hätte es kaum Hilfen für ein schwer behindertes Kind wie unser Goldstück gegeben. Wenn ich an die Blechtrommel denke oder Forrest Gump sehe, kommen mir fast die Tränen. Natürlich dort auf der Messe sind wir die Hauptzielgruppe uns der Kunde ist selbstverständlich König. Es gibt gratis Geschenke, verlockende Angebote und spannende Vorträge. Sogar ein extra Zelt mit barrierefreien, behindertengerechten Toiletten, links und rechts von der Eintrittsrampe stehen hübsche Buchsbaumkugeln.

Schade, dass das eine Parallelwelt ist, die „Eingeweihte“, d.h. Betroffene und beruflich Interessierte nur einmal im Jahr betreten. Wie gerne würde ich mit den Schülern hier her kommen, die sich gegenseitig immer als „behindert“ und „Spasti“ beschimpfen. Sie denken nicht nach und kennen meist keine behinderten Erwachsene oder Jugendliche. Daher wissen die Großmäuler nicht wie kompliziert und beschwerlich so ein Alltag mit Schwerbehinderung sich gestaltet.  Hier wären sie als Gesunde einmal in der Minderheit und würden merken, wie komisch es sich anfühlt immer der oder die „Andere“ zu sein. Ein paar mehr Menschen ohne Handicap auf der Messe wären wirklich noch gut als Ergänzung. Dann hätten wir eine inklusive Gesellschaft im Kleinformat. Niemand, der in Heimen, extra Schulen, Werkstätten sperapiert untergebracht und in ABM-Maßnahmen aufgefangen werden würde. Menschen mit Behinderung sind keine Randgruppe. Sie bilden einen so großen Teil der Bevölkerung, nur nimmt man sie nach wie vor im Alltag kaum wahr. („Dank“ Pränataldiagnostik werden ja auch die Mehrheit potentiell behinderter Kinder inzwischen abgetrieben). Wie wenig das allgemeine Bewusstsein dafür sensibel ist, merkt man daran, dass Inklusion von vielen noch als schulpolitisches Thema angesehen wird. Als würde mit dem Schulabschluss oder der Volljährigkeit sich die Behinderung in Luft auflösen – und als gäbe es nicht auch andere Bevölkerungsgruppen, die ex- statt inkludiert leben, alte Menschen, psychisch Kranke, MigrantInnen…

Es gibt noch so viel zu tun. Für heute ist genug, ich streichle meine Mini Miss inside und freu mich, dass wir einige gute neue Anregungen für unseren Sohnemann mit nach Hause nehmen konnten.